Wenn die Botschaft zur Formverehrung wird

In Indien lebte einst ein Weiser mit seinen Schülern an den Ufern eines heiligen Flusses. Jeden Morgen unterwies er seine Nachfolger in der altehrwürdigen Philosophie, der sie andächtig lauschten. Doch eines Tages strich eine Katze während des Vortrages im Raum herum und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Dies wiederholte sich zum Leidwesen des Weisen von nun an jeden Tag. So band er die Katze schließlich jeden Morgen vor Beginn der Unterweisungen draußen an einem Baum fest und löste ihr die Fessel erst wieder, wenn er seinen Vortrag beendet hatte. Die Jahre verstrichen und der Weise wurde alt und starb. Seine Schüler versammelten sich wie gewohnt jeden Morgen zum gemeinsamen Studium der Philosophie und banden vorher die Katze am Baum draußen fest, wie sie es bei ihrem Meister gesehen hatten. Auch die Katze war schon alt und starb einige Zeit später. Doch unverdrossen hielten die Schüler am Ritual fest, denn keiner von ihnen wußte, weshalb die Katze angebunden worden war. So suchten sie nach einer neuen Katze, die sie von nun an auch wieder jeden Morgen draußen an einem Baum festbanden.
Anonymus


Schlagwörter: weise Philosophie Ritual


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Herbert Klaeren